Warum zuerst die Schulpflicht abschaffen?

So, heute möchte ich Euch erklären, warum ich eigentlich der Meinung bin, dass die Schulpflicht abgeschafft werden muss. Gibt es nicht auch Erfolge durch Reformen des Schulsystems? Können wir es nicht auch auf diesem Weg schaffen?

In meinen Augen ganz klar: Nein!

Gleich vornweg: Schulpflicht abschaffen heißt nicht, dass es keine Lernorte geben soll. Aber, wie ich mir ein gutes Bildungswesen vorstelle, sag ich Euch später.

Seitdem es Schule im modernen Sinn gibt, also seit ca. 200 Jahren, wird schon versucht sie mit Reformen zu verbessern. Und es gab übrigens auch schon immer radikale Schulkritik. Gebracht hat das bisher wenig. Und das liegt meiner Meinung nach daran, dass das grundlegende Prinzip bis heute dasselbe geblieben ist bzw. über die Jahre immer strenger und ausufernder wurde: Der Zwang zum Schulbesuch. Dies bedeutet ja nicht nur, dass die Schüler die Schule besuchen müssen. Die Folgen sind weit reichender. Dadurch, dass sie müssen, haben sie kein freies Verhältnis zu den Lehrkräften/zu der Institution Schule.

Man hat zwar mittlerweile erkannt, dass die gute Beziehung zur Lehrkraft ein herausragender Faktor für gutes Lernen ist, hat aber leider die falschen Schlussforderungen gezogen. Schon seit längerem wird daher versucht, Lehrkräfte derart auszubilden, dass sie fähig werden, eine gute Beziehung zu den Schülern aufzubauen, Gewalt zu verhindern usw. Aber – man überfordert damit nicht nur maßlos die Lehrkräfte, die gleichzeitig ein partnerschaftliches Verhältnis aufbauen UND disziplinieren, bewerten und den Lehrplan durchsetzen sollen, sondern man unterschätzt auch die Lernenden. Diese sind nach wie vor nicht frei in ihren Entscheidungen und ich bin mir sicher, das ist ihnen entweder klar bewusst oder sie fühlen es ganz bestimmt unbewusst, was wiederum entsprechende Verhaltensweisen auslöst, von Gehorsam/Fügung in das Unausweichliche bis hin zu Widerstand, der sich z. B.  auch in Schulverweigerung äußert. Aber es gibt eben keine partnerschaftliche Zusammenarbeit. Das Verhältnis von Lehrkräften und Lernenden bleibt ein durch Macht strukturiertes, die Lernenden haben keine Wahl. Sie müssen. Ob ihnen das nun mit dem Rohrstock eingebläut wird oder ob sie genötigt werden, einen Vertrag mit der Schule/der Lehrkraft zu schließen, auf dessen Inhalt sie letztlich auch keinen Einfluss haben, ist dabei egal. Ersteres ist da sogar ehrlicher.

Ich kann mir eigentlich nicht vorstellen, dass dies den Gestaltern unserer Bildungslandschaft nicht bewusst ist. Aber manchmal glaube ich doch, dass deren Glaube daran, dass Schule quasi so etwas wie ein Naturgesetz ist, ihnen die Augen für die Wirklichkeit verschlossen hat. Ich habe z. B. beim Lesen verschiedener bildungswissenschaftlicher Werke festgestellt, dass zwar häufig die Missstände klar erkannt werden, aber sobald die Autoren der logischen Schlussforderung zu nahe kommen, dass nämlich die Schulpflicht das Übel begründet, schrecken sie zurück und versuchen durch die verrücktesten Reformvorschläge (z. B. die oben erwähnten Verträge zwischen Lernenden und Lehrkräften/Schulen) scheinbar etwas zu verbessern. Es ist aber eine Illusion, dass mit diesen nur scheinbaren Veränderungen etwas Grundlegendes zu verbessern ist.

Was mich ärgert: Es hat nichts mit ehrlicher und offener Wissenschaft zu tun, wenn bestimmte Themen und Denkrichtungen schlicht ausgeblendet werden. Ich denke, da spielen etablierte Meinungen eine Rolle, wie unbegründet sie auch immer sein mögen. Da spielen gute Arbeitsplätze eine Rolle, die man durch verquere Ideen nicht gefährden will. Da spielt Angst vor Neuem eine Rolle. Aber sicher auch diese innere Grenze, der unbegründete Glaube daran, dass es ohne Schulpflicht nicht funktioniert. Also ignoriert man lieber all die Hinweise darauf, dass Lernen ganz anders funktioniert, all die Hinweise darauf, welchen Schaden unser Schulsystem an den Familien/an den Menschen und damit an der Gesellschaft anrichtet, und lässt grundsätzlich alles beim Alten.

Weil ich also davon überzeugt bin, dass

  1. Menschen dazu gemacht und fähig sind, sich selbst zu bilden,
  2. wenn sie von sich aus Hilfe von anderen Menschen benötigen bzw. erbitten, diese keinen Zwang ausüben, sondern nur erklärend und unterstützend begleiten dürfen,
  3. die Schulpflicht aber, mit all ihren „Anhängseln“ (Lehrplan, Bewertungen, Disziplinierung, Abschlüsse usw.), einen Zwang darstellt, der nur mit Zwangsmaßnahmen durchgesetzt werden kann und sowohl Lehrende als auch Lernende unter massiven Druck setzt,

bin ich der Meinung, dass es für grundsätzliche Veränderungen notwendig ist, die Schulpflicht abzuschaffen. Alle Veränderungen, die im Schulsystem mit weiter bestehender Schulpflicht, angestrebt oder durchgesetzt werden, ändern nichts Wesentliches.

Erst ohne Schulpflicht kann ein Bildungswesen gestaltet werden, das auf ganz anderen Grundsätzen aufbaut und das unseren Kindern bzw. allen Menschen wirklich nützt – und damit letztlich auch unserer Gesellschaft.

Angela

Ceterum censeo coactam educationem delendam esse!

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4 Replies to “Warum zuerst die Schulpflicht abschaffen?”

  1. Tanja Wiemann

    Interessant, aber was genau würde sich verändern, wenn es keine Schulpflicht gäbe? Was würde sich für Kinder aus einem bildungsfernen Umfeld verbessern, wenn es keine Schulpflicht mehr gibt?
    Wie genau sehen diese Bildungsorte aus?

    • Angela

      Liebe Tanja,
      es würde sich ändern, dass kein Zwang mehr dahinter steht. Schule wäre ein Angebot, das entsprechend gut und nützlich für den einzelnen Menschen sein müsste, um angenommen zu werden.
      Und – was heißt schon bildungsfern? Meiner Meinung nach gibt es das nicht. Jeder Mensch ist irgendwie gebildet. Die Frage ist nur, welche Art von Bildungskanon in der Gesellschaft als wichtig erachtet wird. Das hat auch etwas mit Herrschaft und Ab-/Ausgrenzung zu tun. In diesem Sinne bildungsferne Menschen (die also dem hier geltenden Mittelstands-Bildungsideal nicht genügen) werden u. a. durch Schule erst gemacht. Gerade die deutschen Schulen sind da extrem diskriminierend. Sie reproduzieren die bestehenden Verhältnisse – inklusive der „bildungsfernen“ Menschen. Und das soll Schule auch tun. Sie besitzt eine Reproduktionsfunktion für die Gesellschaft – offiziell definiert, nicht von mir erfunden. Außerdem gibt’s noch eine Legitimationsfunktion. Damit ja niemand auf die Idee kommt, dass es auch ganz anders gehen könnte, soll die Leistungsgesellschaft in unseren Köpfen als einzige Möglichkeit des Zusammenlebens festgeschrieben werden. Auch nicht von mir erfunden. Kann man alles in der offiziellen Literatur nachlesen. Und eigentlich untragbar in einer Demokratie, in der es gerade darauf ankommt, dass der einzelne Mensch seinen Beitrag zur Gestaltung der Gesellschaft leistet. Wenn er aber vorher auf diese eingeschworen wird – wie soll er sie unvoreingenommen betrachten können? Dieses Vorgehen – die Reproduktion des Bestehenden – erzeugt Stillstand.
      Um zu der Frage zurückzukommen. Auch für so genannte Bildungsferne gäbe es keinen Zwang mehr. Da aber jeder Mensch lernen will, wenn man ihn nur lassen würde bzw. ihm dies in der Schulzeit nicht austreiben würde, käme es nur auf die interessanten Angebote an. Motivation wäre genug da. Es gilt meiner Meinung nach außerdem, dass die wichtigen Kulturtechniken, wie z. B. Lesen und Schreiben, irgendwann jeden Menschen interessieren würden – den einen früher, den anderen später. Eine gewisse Menge an Bildung wäre dadurch bei allen mehr oder weniger gleich, aber dazu würde sich jeder Mensch für ganz bestimmte Dinge interessieren. Die Bildungswelt wäre eine vielfältige.
      Was die Angst vor Gewalt in der Familie betrifft – der Staat/die Gesellschaft hat nach wie vor eine Wächterfunktion. Das klappt ja auch heute nicht unbedingt soooo toll. Aber diese Aufgabe könnte auch ohne Schulpflicht weiter verfolgt werden.
      Zu den Bildungsorten: Das zu beschreiben, würde ein Buch füllen oder mehrere. Bibliotheken sind schon heute so ein Ort – ein Dienstleistungsangebot eben. Die Entscheidung es zu nutzen, liegt beim jeweiligen Menschen. Das mögliche Angebot würde quasi nur durch die Verfassung eingeschränkt. Was nicht verfassungskonform ist, kann nicht angeboten werden. Dies zu kontrollieren wäre staatliche Aufgabe.
      LG
      Angela

    • Angela

      Lieber Daniel, ich bin nicht ganz sicher, wie ironisch diese Frage gemeint ist. Aber um ernsthaft darauf zu antworten: Weil die Schulpflicht für diese Menschen ein Naturgesetz darstellt. Ich hab es im Text ja erläutert. Die große Mehrzahl der Verantwortlichen will nicht hinhören. Lieber weiter unbewiesene Argumenten immer und immer wieder nachbeten, als würden sie dadurch wahr. Meine Tochter hat beispielsweise einen Brief an verschiedene Parteien und auch die Bundesministerin für Bildung geschrieben und darauf nur wenige – ablehnende und nichtssagende – Antworten erhalten.

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