Dritte Runde – Antwort auf einen Artikel des mdr Sachsen-Anhalt: „Jugendarrest für Schulschwänzer: „Dann sind schon einige Züge abgefahren““

Wie angekündigt, möchte ich mich zu einem weiteren Artikel zum Fall des in den Tod gesürzten Mädchens in Halle äußern:

Es geht um diesen.

Hier wurde ein Interview mit der Chefärztin der Kinder- und Jugendpsychatrie in Halle, Manuela Elz, geführt.

Da ist dann von den „klassischen Schulschwänzern“ die Rede, die „einfach keine Lust haben, zur Schule zu gehen. Die bleiben zu Hause, machen sich einen schönen Tag und haben kein schlechtes Gewissen.“. Thema erledigt. Ihre Gründe interessieren nicht. Selbst in der bildungswissenschaftlichen Literatur wird mittlerweile vereinzelt erwogen, diese jungen Menschen einfach einmal als Schulkritiker zu verstehen. Aber es ist natürlich viel praktischer, sie als ziellos und faul zu charakterisieren, einfach null Bock. Fertig.

Dann gäbe es Kinder und Jugendliche, „die Angst haben, in die Schule zu gehen“. Immerhin weden auch Gründe für diese Angst genannt, in meinen Augen sehr berechtigte Gründe: Mobbing, strenge Lehrer, Leistungsdruck. Das wird dann einfach mal so stehen gelassen.

Und zuletzt ist von Schulphobie die Rede. Diese Kinder haben Angst vor „der Schule“. Wie man das von den oben beschriebenen Ängsten, also einzelnen Gründen, trennen möchte, ist mir ein Rätsel. Viele junge Menschen, gerade auch GrundschülerInnen, erleben Mobbing und vieles mehr, können jedoch ihre Angst vor dem Schulbesuch nicht wirklich artikulieren. Zudem ja die ganze Umgebung es feiert, dass das Kind nun endlich die Schule besucht. Schon deswegen müssen Kinder, denen gar nicht feierlich zu Mute ist, sich irgendwie falsch fühlen.

Die Unterstellung lautet dann, dass Schulphobie nichts mit der Schule zu tun hat, sondern dass die Kinder nicht von zu Hause wegkommen. Verglichen wird das mit Erwachsnene, die sich tatsächlich überhaupt nicht aus dem Haus trauen. Vergessen wird dabei, dass diese Kinder sich meist sofort aus dem Haus trauen, wenn es nicht in die Schule geht. Wobei ich gleich sagen möchte, dass in Einzelfällen tatsächlich echte psychische Störungen zugrunde liegen können. Mir ist jedoch kein Fall bekannt, in dem ein Kind, das nur nicht zur Schule wollte, derartige Auffälligkeiten entwickelte.

Wenn man erst einmal unterstellt hat, dass diese Kinder die Störung haben, nicht mehr aus dem Haus zu wollen, wird sich ganz scheinheilig gefragt, warum das wohl so ist. Beschrieben wird dann aber wieder nur schulvermeidendes Verhalten, nicht etwa das Vermeiden von draußen spielen oder einkaufen gehen.

Dann werden, wenn auch sehr vorsichtig, die Familien pathologisiert. Sie hätten oft eine enge seelische Verbingung, aber meist seien sie belastet und das Kind würde nicht weggehen, aus Angst, das etwas passiert. Wie gesagt, ich bin mir sicher, dass es so etwas gibt. Ich bin mir jedoch auch sicher, dass das nur eine kleine Gruppe von jungen Menschen betrifft. Ich lese hier aber auch eine unterschwellige Unterstellung heraus, dass Familien eine zu enge seelische Verbingung haben können und dass da ja wohl etwas dahinter stecken müsse. Werden eben keine depressiven Eltern oder Gewalt in der Familie als Ursachen ausgemacht, ist es die zu enge Bindung. Irgendeinen Grund – außerhalb von Schule natürlich – muss es ja geben. Tatsächlich wird dies in der psychologischen Literatur auch genau so thematisiert.

Ich möche hier eins deutlich äußern: Bindung ist etwas Richtiges und Gutes. Zu versuchen sie für berechtigte Ängste von jungen Menschen vor der Schule verantwortlich zu machen, halte ich für mehr als fatal. Von Kindern zu verlangen sich – nicht freiwillig, sondern per Gesetz – über mehrere Stunden an einem Ort aufzuhalten, an dem fremde Menschen über alles, was man tun und lassen soll, bestimmen, kann auch ganz von allein Angst machen. Da braucht es nicht die Erklärung einer festen Bindung an die Familie.

Ich habe hier bereits davon geschrieben, wie die staatliche „Hilfe“ aussieht, dass sie einzig und allein die Rückführung zur Schule vorsieht. Sie orientiert sich nicht an den Bedürfnissen der jungen Menschen, denen andere Bildungsangebote – wohl gemerkt ANGEBOTE – gemacht werden könnten. Nein, sie orientiert sich am Bedürfnis des staatlichen Bildungsmonopols, das über alle jungen Menschen verfügen möchte. Das gilt auch für die „Hilfe“ der Psychologen.

Und jetzt kommt das absolut Entsetzliche. Frau Elz sagt: „Denn Jugendliche, die so lange die Schule nicht besuchen, haben ein Problem. Und das hat aus unserer Sicht eindeutig einen Krankheitswert.“ Bitte ersetzen Sie Schule mit Arbeitsplatz oder irgendeinem anderen Ort! Merken Sie, was da vor sich geht? Das ist die PATHOLOGISIERUNG einer Handlung, die in jedem anderen Kontext als nomal angesehen würde. Jemand, der nicht mehr an seinem Arbeitsplatz sein möchte, kündigt. Fertig. Hier merkt man auch deutlich, dass es eben doch nicht um Kinder geht, die vielleicht wirklich pathologisch unter Ängste und Zwängen leiden. Nein – es geht darum, Menschen, die sich einer – ausweglosen! (sie können nicht kündigen) – Fremdbestimmung entziehen, als psychisch krank zu beschreiben. Denn wenn sie erst einmal als krank diffamiert sind, muss man ihren Trieb nach Selbstbestimmung nicht mehr ernst nehmen.

An der Stelle möche ich an Drapetomanie erinnern: Ein amerikanischer Arzt schuf 1851 diesen Begriff zur Bezeichnung einer psychischen Krankheit von Sklaven – dem Drang, aus der Gefangenschaft zu fliehen. Als Prävention empfahl er, die Symptome wie zum Beispiel Unzufriedenheit rechtzeitig zu erkennen und die Ursachen zu beiseitigen, was ja wohl eher schwierig gewesen sein dürfte. Es wird vermutlich die zweite Emfpehlung – die Unzufriedenheit durch Züchtigung auszutreiben – angewendet worden sein. Was ist der psychische Effekt der Erfindung einer solchen Krankheit? Da der Drang wegzulaufen, krankhaft ist, muss man sich nicht mehr mit den wirklichen Ursachen auseinandersetzen. Wie praktisch. Übrigens wurde der Begriff bis in die 60er Jahre in den USA – eigentlich logisch in meinen Augen – auch zur Pathologisierung des Verhaltens von Schulschwänzern verwendet.

Interessant ist nun, dass Drapetomanie heute als Beispiel für rassistisch begründete Pseudowissenschaft gilt. DAS sollte uns sehr zu denken geben. In meinen Augen ist die Psychologie, die heute junge Menschen derart diffamiert und pathologisiert, wie es im Falle von Schulschwänzern der Fall ist, ebenfalls eine Pseudowissenschaft!

Ich möche allen Eltern ans Herz legen: Lassen Sie sich nicht instrumentalisieren! Schauen Sie auf Ihr Kind und seine Bedürfnisse! Lassen Sie sich nicht erzählen, Ihr Kind wäre falsch, nur, weil es nicht zur Schule gehen möchte! Ziehen Sie in Erwägung, dass das System falsch ist, dem ihr Kind mit aller Macht untergeordnet werden soll!

Ich hoffe inständig, dass Kinder und Eltern, die sich Zwang, Gewalt, Kriminalisierung und Pathologisierung nicht länger gefallen lassen wollen, irgendwann die kritische Masse erreichen und dringend notwendige Änderungen einfordern. Angesichts von Umfrageergebnissen, nach denen die große Mehrheit der Menchen Jugendarrest für Schulschwänzen befürwortet, sind wir sicher noch weit davon entfernt, aber ich persönlich werde nicht aufgeben!

Angela

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28 Replies to “Dritte Runde – Antwort auf einen Artikel des mdr Sachsen-Anhalt: „Jugendarrest für Schulschwänzer: „Dann sind schon einige Züge abgefahren““”

  1. Stefanie Weisgerber

    Angela, du triffst vollkommen ins Schwarze mit diesem Text. Das Thema „Drapetomanie“ war mir bisher überhaupt nicht bekannt. Ein schlimmer und leider zutreffender Vergleich. Das muss stärker in Bewusstsein der Menschen gebracht werden. Vielen Dank für deinen Beitrag.

    • Angela

      Danke Stefanie. Ich habe vor über einem Jahr von einer Bekannen davon erfahren – und war auch geschockt. Das lässt so tief in die Gemeinsamkeiten von Zwangssystemen blicken….

  2. Andrea S

    Weil die Aussagen einer Ärztin in einem Interview nicht gefallen ist die Psychologie also eine Pseudowissenschaft, wie fundiert und differenziert…

  3. Andrea S

    äh, nein…

    Jetzt hätte ich schon gern ein Zitat aus dem aktuellen ICD-10 mit der Diagnose „Schulphobie“.

    (P.S.: ups, gibt es ja garnicht…)

    • Angela

      Ganz genau – und trotzdem wird sie permanent behauptet. Das können Sie – wie gesagt – in vielen Büchern zum Thema nachlesen. Und auch Frau Elz ist nicht irgendwer, sondern die Chefärztin der Kinder- und Jugendpsychiatrie.

    • Angela

      Das dürfen Sie nicht mich fragen. Fragen Sie Frau Elz. Klar ist, dass sie die in der Psychologie gängige Meinung von sich gibt. In allen Büchern, die ich mir zum Thema angeschaut habe, war es auch so beschrieben, teilweise in fürchterlicher Art und Weise. Wohlgemerkt – Fachbüchern.

      • Angela

        Hier ein typiches Beispiel. Das Kind will nicht zur Schule. Das ist prinzipiell als krankhaft zu bezeichnen. Oder das Kind ist faul, lügt und „nimmt sogar Drogen“. Das heißt, die Schuld liegt immer beim Kind und/oder bei der Familie. Bei denen muss etwas nicht stimmen. Dass Schule einfach ein falscher Ort ist, wird nicht mal ansatzweise angedacht. https://www.youtube.com/watch?v=CLXFdhhg1PE In beinahe jedem bildungswissenschaftlichen Fachbuch wird das dann genau so wiedergekäut. Die freie Entscheidung eines Menschen gegen einen Ort, den er nun mal nicht besuchen möchte, gibt es nicht!
        Aus dem Interview sollte ganz klar hervorgehen. Therapiert soll nicht irgendeine Krankheit werden. Therapiert werden soll der Nichtschulbesuch. Die Krankheiten werden unterstellt. Es gibt diese Bauchschmerzen etc. Ja. Aber nach deren Meinung, weil das Kind krank ist, nicht etwa, weil Schule ein durchaus Angst machender Ort sein kann.

  4. Andrea S

    Gängige Lehrmeinung dürfte sein, dass Schulvermeidendes Verhalten in einer Mehrzahl der Fälle mit krankhaftem Verhaltens- und Beziehungsmustern in Korreliert.

    Und das erscheint auch hochgradig glaubhaft, wenn man sich vor Augen führt, dass die überwiegende Mehrzahl der Schulabstinenten eben sich nicht „frei bildet“ sondern tatsächlich schlicht vermeidet…

    • Angela

      Man sollte aber fragen, warum? Und da wird die Schuld niemals bei der Schule gesehen. Warum wird einem Erwachsenen nicht sofort eine psychische Erkrankung unterstellt, wenn er wegen Mobbings kündigt? Ist jeder Mensch, der etwas meidet, dass ihm nicht gut tut, psychisch krank? Warum werden junge Menschen mit so einem krankhaften Zwang in Schulen gedrängt, wenn sie nicht wollen? Ob sie sich frei bilden, können wir gar nicht so ohne weiteres entscheiden. Sie lernen auf jeden Fall immer und überall. Es geht mir daraum, dass ihnen außerschulische Angebote gemacht werden. Wohlgemerkt – Angebote. Nicht nur Zwang zurück zur Schule.

  5. Anja

    Das Standardwerk ist wohl der ICD-Katalog? Dort sind ja nur Beispiele aufgeführt. Es gibt aber genug „erklärende“ Unterlagen mit Schulphobie. Bsp mit ausführlicher Erwänung der Schulphobie: https://www.klinikum-stuttgart.de/fileadmin/mediapool/downloads/kjp/Angst_-_Schulphobie_2014_11_18.pdf
    Oder auch: https://www.schulberatung.bayern.de/imperia/md/content/schulberatung/pdfschw/pdfschw0809/schulangst_verweigerung_ref_gutscher_02_09.pdf
    Hier ist Schulphobie auf Seite drei erwähnt.

  6. Andrea S

    Moment, ich verteidige doch die bestehende Schulgesetzgebung mit keiner Silbe.

    Ich finde nur ihr Geschreibe wenig hilfreich. Oder inwiefern ist es denn jetzt angemessen oder sinnvoll Psychologie als „Pseudowissenschaft“ zu bezeichnen um irgendetwas in Punkte Schulgesetzgebung zu erreichen?

    • Angela

      Das hab ich auch nicht behauptet. 🙂

      „In meinen Augen ist die Psychologie, die heute junge Menschen derart diffamiert und pathologisiert, wie es im Falle von Schulschwänzern der Fall ist, ebenfalls eine Pseudowissenschaft!“ – Das habe ich gesagt, und dazu stehe ich.

      Bitte wahren sie den Ton. „Geschreibe“ ist wohl schon etwas entglitten. Ich nehme Ihre Äußerungen ernst und reagiere darauf (ganz egal, ob ich privat denke, dass es Geschreibe ist).

      Und ja – man muss auf die Missstände aufmerksam machen. Und zwar laut und deutlich. Sonst wird man nicht gehört. 🙂

      Im Übrigen möchte ich Menschen erreichen und zum Glück gelingt das auch. Die Gesetzgebung wird sich eh erst ändern, wenn genügend Menschen es verlangen.

  7. DrKn

    Gemeint war, so verstehe ich den beanstandeten Satz: „Die Psychologie, insoweit sie junge Menschen … pathologisiert wie … im Falle von Schulschwänzern“… Da darf man vielleicht in Anbetracht der Schnelligkeit, mit der dieser Blog reagiert hat (was ich angesichts der dramatischen Ereignisse richtig finde), nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen. Und in dem gerade paraphrasierten Verständnis stimmt ich, mit Blick auf eine Vielzahl von Fälle, die ich kenne, dem Satz zu. Nicht was die akademische Forschung angeht, auch nicht, was die ICD-Nummern angeht, aber was die Praxis vieler Schulpsychologen, Gutachter/Sachverständiger etc. angeht, bei denen die Begriffe Schulvermeidung, Schulangst, Schulphobie, Schulverweigerung und -abstinenz bunt durcheinanderpurzeln und eigentlich mehr als vornehme Etiketten benutzt werden, um einen Krankheitswert herbeizuschreiben, der in vielen Fällen doch höchst fragwürdig ist.
    Dass nicht alle Schulvermeider eine gelungene Bildungskarriere hinlegen, mag sein und ist aber auch eine andere Frage. Es liegt aber jedenfalls auch daran, dass das rigide deutsche System eben, wie hier ausgeführt so rasch mit Kriminalisierung und Pathologisierung bei der Hand ist, wovon der Jugendarrest ja nur die Spitze darstellt. Gäbe es ein freieres Bildungssystem, wären die Chancen auf gelungene Bildungsbiografien ohne Schule deutlich höher, auch ohne engagierte Eltern. Und mal abgesehen davon muss man ja immer noch sagen, dass die Klientel, aus der sich die bekannten Schwänzer und Schulverweigerer zusammensetzt, auch dort, wo sie im System verbleibt, ja meist aus diesem als Verlierer hervorgeht, oft genug ganz ohne „Abschluss“.

    • Angela

      Danke Drkn, tatsächlich meine ich es auch so. Im Sinne der Drapetomanie halte ich die derzeitige Praxis des Umgangs mit Schulverweigerern für pseudowissenschaftlich. Das schließt ja nicht aus, dass es Störungen wie Trennungsängste etc. gibt. So lange aber die Schulverweigerung an sich therapiert werden soll, mit dem einzigen Ziel der Rückführung in Schule, halte ich das für falsch. Denn Schule ist schließlich kein Naturgesetz, dem unbedingt zu folgen ist.
      Danke auch für den Hinweis, dass auch erfolgreich in Schulen zurückgebrachte Schulverweigerer meist zu den Verlieren gehören. Würde man ihre tatsächlichen Bedürfnisse wahrnehmen, hätten sie mit Sicherheit bessere Lebensschancen.

  8. Andrea S

    Ich halte das mit den „besseren Lebenschancen“ ja für kokolores aus der Libertären Geisterküche.

    Das Bildungssystem ist hinsichtlich Chancengleichheit sicher zu verbessern, aber eine öffnung in Richtung häuslicher Beschulung leistet dazu doch keinen Beitrag, häusliche Bildung ist ja noch deutlich enger an das häusliche sozio- ökonomische Potential geknüpft.

    Die Frage der häuslichen Bildung ist eine Frage der Gewichtung der Freiheitsrechte, nichts anderes.

    Wir leben in einer Wettbewerbsgesellschaft und ein Wettbewerb produziert naturgemäß mehr Verlierer als Gewinner. Die Schule wiederum wirkt als Wettbewerbsfaktor, es liegt also in der Natur von Schule, im Rahmen einer Wettbewerbsgesellschaft, ebenfalls mehr Verlierer als Gewinner zu produzieren…

    Wenn man davon ausgeht, dass 1% der Schulpflichtigen Menschen chronisch Schulabstinent sind, dann sind das immernoch ca. 75.000 Schüler. Wieviele frei sich bildenden Schulpflichtige gibt es in Deutschland? Vielleicht 1000, also ein einstelliger Prozentanteil der Schulabstinenten.

    Das die klinische Psychologie in ihrer Herangehensweise eher an der überwältigen Mehrzahl der Fälle orientiert ist kann dann doch wenig verwundern.

    • Angela

      „Häusliche Beschulung“ ist nicht mein Ziel. Das wäre Schule zu Hause, also nicht besser. Ich bin für ein Bildungswesen, das allen Menschen Angebote macht.
      Also, ich finde die Tatsache, dass unser Schulsystem gerade in Punkto Chancengleichheit extrem schlecht abschneidet, nicht kokolores.
      Und weil unser System eine Leistungsgesellschaft ist, steht es dem Schulsystem zu, die entsprechende Menge an Verlierern zu produzieren? Was für eine menschenfeindliche Einstellung. Um so mehr steht es den jungen Menschen zu, sich davon zu befreien.
      Es gibt um die 300.000 Schulverweigerer in D. Zählt man die Verweigerung in Form von „Abschalten während des Unterrichts“ hinzu, was in mancher Fachliteratur erwogen wird, dürfte es wohl mehr Verweigerer als „Mitmacher“ geben.
      Ich verstehe den Vergleich mit den „Freilernern“ nicht. Mir jedenfalls geht es um alle Verweigerer. Und ich fordere nichts weiter als bedürfnisorientierte Angebote für diese, damit sie eventuell nicht gleich als Looser ins Leben starten.
      Erstrebenswert kann übrigens auch ein ganz einfaches Leben ohne Leistung sein, das jedoch zufrieden macht.
      Mir ist nicht klar, was das bedeuten soll, dass sich´die Psychologie an die Mehrzahl der Fälle hält. Sind also die 300.000 Schulverweigerer, die keine „Freilerner“ sind, doch alle psychisch krank (pathologisiert) oder faule Lügenbolde, die „vielleicht sogar Drogen nehmen“ (kriminalisiert)? Es gibt übrigens eine Menge Studien dazu, dass Menschen die Erwartungen, die man an sie hat, letztlich erfüllen. Das heißt, wenn ich pathologisiere und kriminalisiere, muss ich mich nachher nicht wundern, dass viele der betreffenden Menschen wirklich psychisch krank oder kriminell werden.

  9. Andrea S

    Ja, Schule als gesellschaftliches Subsystem bildet
    die Grundcharakterisitken des Gesamtsystems ab.

    Und wo liegt denn der Unterschied zwischen einem kriminalisierten und einem wirklich kriminellen Menschen?

    • Angela

      Schule schafft dieses Gesamtsystem immer wieder neu, nicht allein, aber in meinen Augen hauptsächlich. Und das ist auch die Funktion von Schule. Sie soll den Staat in den Köpfen der jungen Leute legitimieren und die Gesellschaft reproduzieren. Kann man auch in jedem bildungswissenschaftlichen Werk lesen. Und das tut Schule auch erfolgreich. Ich finde nur, dass Menschen nicht gezwungen werden dürfen, sich dem unterzuordnen. Ihr Schicksal gehört ihnen. Natürlich kann nicht jeder Mensch erfolgreich im heutigen Sinne des Wortes sein, aber jeder Mensch muss das Recht haben, über seinen Lebensweg selbst zu bestimmen.

      Wenn man behauptet, dass Schulschwänzer faule Lügner sind, die nur Spaß haben wollen, nicht verantwortungsvoll wären etc. – und das ist eine von zwei Möglichkeiten, die andere heißt, sie sind psychisch krank – ist das der Anfang der Kriminalisierung. Wenn Schulschwänzen automatisch in der Kriminalitätsstatistik auftaucht, ist das Kriminalisierung. Menschen wird ein bestimmtes Verhalten unterstellt, sie werden in eine Schublade gepackt – und viele beginnen dann, diesem Bild zu entsprechen. Deutlich genug?

  10. JanaM

    Dem obigen Artikel kann ich nur zustimmen.
    Mein Sohn und ich sind direkt Betroffene der gängigen Praxis, ein Kind zu pathologisieren, das unter den Umständen in der Schule leidet, während ich kriminalisiert wurde, weil ich als seine Mutter versuchte, ihn zu schützen.
    Als sensibles Kind mit gesunden Reaktionen wurde er krank, nachdem er in der Schule geschlagen wurde, wenn die Klassenlehrerin schon früh morgens die Kinder anschrie oder er miterleben musste, wie seine Mitschüler erniedrigt wurden. Ein korrekt gestellter Antrag auf Befreiung vom Unterricht brachte den Stein ins Rollen: statt Hilfe vom Schulamt zu bekommen reagierte es mit einer Klage gegen mich. Es folgten Anhörungen vor dem Familiengericht, weitere Klagen und Bußgeldforderungen – die Repressalien verfolgten uns während der ganzen Grundschulzeit.
    Was war es eigentlich?
    Wir leben hier in einem abgeschiedenen Ort, in dem Gemeinschaft, Achtsamkeit und Respekt Werte sind, die wir pflegen. So gehen wir auch mit unseren Kindern um. Hier gibt es keinen Wettbewerb, wir legen Wert auf Teamarbeit und einen bewussten Umgang mit allem, was uns umgibt.
    Mein Sohn war es also gewohnt, ernst genommen zu werden, seine Bedürfnisse artikulieren und verhandeln zu dürfen. Mit der Einschulung war er allerdings noch längst nicht darauf vorbereitet, das gegenüber Lehrerinnen einzuforden, die in einem Kontext wie Schule, wie sie noch seit DDR-Zeiten war, nur im Befehlston mit den Schülern sprachen und Druck für eine geeignete Lernmotivation hielten. Man könnte es auch als einen Kulturschock bezeichnen.
    Ich sah nicht ein, mein Kind in die Höhle des Löwen zu schicken, wenn es davon so krank wurde, dass ein Hautausschlag oder Erkältungskrankheiten den Stress anzeigten, den ihm das bereitete. Und während der Zeit, die er dadurch zuhause sein konnte, lernte er Englisch, – Lesen und Schreiben konnte er ja schon vor der Einschulung, und, da ich den Umgang mit dem Internet seinen Bedürfnissen anpasste, bildete er sich allgemein. Er beschäftigte sich mit Themen, von denen gleichaltrige noch nicht einmal etwas gehört hatten.
    Doch von den Behörden kam nur noch mehr Druck, wir hatten zeitweise Auflagen zu erfüllen, die unsere ganze Familie auf dem Zahnfleich kriechen ließ, – alles nur, weil um jeden Preis die Schulpflicht erfüllt werden sollte.
    Zynisch dabei ist: Die Psychologin, die im ersten Gutachten eine Pathologisierung thematisierte, empfahl eine Schule, in der Abhilfe geschaffen werden könnte, weil sie individuell auf die Schüler eingeht, doch die wurde vom Schulamt nicht genehmigt.
    Der Schulpsychologe, der 2 Jahre später die „Schulphobie“ diagnostizierte, verstand genau das Problem, musste aber im Sinne der Schulbehörde seine Empfehlung für eine Förderschule aussprechen, sonst hätte er noch mehr Ärger bekommen, nachdem er unauthorisiert zustimmte, meinen Sohn die letzten Wochen vor den Sommerferien nicht weiter zu quälen und zuhause zu lassen.
    Es gab Mitarbeiterinnen im Jugendamt die je nach Zuständigkeit mal dem Schulamt zudiensten sein wollten oder aber beeindruckt waren von der Persönlichkeit meines Sohnes. Letztere sprachen sich vor dem OLG schließlich für uns aus, wie auch der Beistand, der meinem Sohn vom Familiengericht zugeordnet worden war. Denn mittlerweile haben wir es hier geschafft, eine freie Schule zu eröffnen, in der mein Sohn ein wertvolles und geschätztes Mitglied ist.
    Und genau die Eigenschaften, die ihn in der staatlichen Schule behindert haben und ihm den Status einer „Behinderung“ eingetragen haben, sind nun wertvoll: Aufgrund seiner Bedachtsamkeit und Sensibilität ist er ein wichtiges Mitglied im Friedenskreis, seine Geduld und Fürsorge werden über den Schulalltag hinaus geschätzt.
    Was wäre aus ihm geworden, wenn ich mich zum Handlanger der staatlichen Schulpflicht gemacht hätte?
    Wie hätte ich dieser Zerstörung seiner Persönlichkeit zusehen können?
    Was mir in Diskussionen wie oben immer wieder fehlt, sind die Zwischentöne und Einzelschicksale. Jeder Mensch hat eine Geschichte, seine Bewegründe und Besonderheiten. Wie kann man da pauschal von „Schulabstinenz“ als Krankheitsbild sprechen?
    Jeder Mensch hat ein Potenzial, und mir stößt es besonders auf, hier zu lesen, dass das nunmal die Wettbewerbsgesellschaft sei, und die produziere nunmal „Ausschuss“. Gehts noch?

    ……. edit: Ich habe hier eine unangemessene Äußerung gelöscht. Angela> …….

    Sorry, das konnte ich mir nicht verkneifen.
    Es gib Werte, die im Mainstream noch nicht angekommen sind, da geht es immer nur darum, funktionieren zu müssen, weil das nun mal so ist. Weil alle das machen.
    Aber das ist nicht wahr.

    • Angela

      Hallo JanaM, danke für Eure Geschichte. Ich verstehe Deinen Unmut über die Äußerung zur Wettbewerbsgesellschaft, würde mich aber freuen, wenn der Ton trotzdem sachlich blieben könnte. 🙂 LG Angela

    • Angela

      AndreaS beschwerte sich zu Recht über eine Beleidigung. Dafür muss ich mich entschuldigen. Das war meiner Unfähigkeit geschuldet. Ich wusste einfach nicht, wie ich das richtig lösen soll. Ich habs jetzt gelöscht.
      Angela

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